Heilige Familie - Ambo

Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem.Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort.

Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. (Lk 2,41-51)

Das Zurückbleiben des zwölfjährigen Jesus im Tempel hatte schon immer die Faszination einer großen Geheimnistiefe. Und es ist staunenswert, wie mit wenigen und einfachen Elementen der Künstler diese Geheimnistiefe lebendig werden zu lassen versteht:

Da ist die Wirklichkeit des Tempels, der Vorhang, der das Allerheiligste verhüllt, die Gruppe der Lehrer, Maria und Josef am Ziel ihrer Suche und schließlich Jesus.

Der Tempel, tausend Jahre zuvor von König Salomo erbaut, zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts zerstört, und nach der Rückkehr aus Babel wieder aufgebaut. Der Tempel, das Ziel der Wallfahrten Israels und später der Juden. Mit dem Kommen Jesu in den Tempel kommt alle Wallfahrt der Frommen durch die Jahrhunderte an ihr Ziel. Der Tempel, den Jesus zwanzig Jahre später als ausdrückliches Zeichen seiner Leibhaftigkeit wählt: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten … er aber meinte den Tempel seines Leibes“ (Joh 2,19-21).

Wie mag es diesen jungen Menschen durch die Höfe und Hallen getrieben haben, da das Opferblut von tausenden Lämmern floss, das nach seinem Blute rief.

Wie mag es ihn zum Allerheiligsten hingezogen haben? In Jesus ist der wahre Anbeter in den Tempel gekommen.

Wie mag er ehrfürchtig vor dem Allerheiligsten gestanden sein, vor dem Vorhang, der den Blick ins Innerste verwehrte, und der im Augenblick seines Todes von oben bis unten entzweireißen wird (Mt 27,51), um den Blick in die Geheimnistiefe des göttlichen Geheimnisses freizugeben, in die abgründige Liebe des durchbohrten Herzens Jesu.

Ja, Jesus sitzt vor diesem Vorhang und weist mit der Linken aufs Herz – ja, das bin ich!

So thront der Zwölfjährige zwischen den Lehrern und seinen Eltern, - er, von dem die Schrift nur berichtet, dass er zuhört und fragt, und dass alle voll Staunen waren über sein Verständnis und seine Antworten (Lk 2,47).

Wer von uns ist schon einer, der zuhören kann, oder den Mut hat, Fragen zu stellen? Jesus hat zuhören und fragen bei seinen Eltern gelernt. Josef und Maria waren seine Lehrer. Den Lehrern Israels gegenüber erweist er sich hier im Tempel im Zuhören und Fragen stellen als Meister. Und so thront der Zwölfjährige zwischen den Lehrern – es sind sieben, die betend, hörend, nachdenklich, im Gespräch einen Schoß der Erkenntnis und des Wissens bilden – und der ratlosen Mutter, die nicht verstehen, sondern nur im Herzen bewahren – und anbeten kann; zusammen mit Josef, der Maria begleitet und hütet – und in tiefer Aufmerksamkeit da ist: Er sieht und hört und schweigt.

Maria und Josef sind zugleich wie im Aufbrechen, im Weggehen. Von Jesus führen die Stufen zu ihnen hinab, als wäre er nun bereit, sich mit ihnen auf den Weg zu machen – wie es ja auch im Text abschließend heißt: Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam.

Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Das gilt vor allem für die so schwer verständliche Antwort Jesu: Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Es ist für Maria das Steinchen im Schuh auf dem Heimweg. Diese Antwort Jesu möchte auch ein Wort an uns sein, das uns keine Ruhe mehr lässt.

Johannes Reitsammer SJ